Dem Ausdruck stille Feiung begegnete ich zum ersten Mal, als Prof. Drosten in seinem Podcast beschrieb, wie Menschen durch eine vorhergegangene unerkannte Infektion vor einer Ansteckung mit einem Krankheitserreger geschützt sein können.
Das Nomen Feiung sprach mich durch seine Altertümlichkeit an, es erinnerte mich an den gebräuchlicheren Ausdruck gefeit sein, und meine Neugierde war geweckt.
Ich versuchte herauszufinden, woher Feiung kommt und was seine sprachlichen Vorfahren sind. Dafür bin ich in die Vergangenheit der deutschen Sprache und einiger mit ihr verwandter Sprachen eingetaucht:
Feiung wird offenbar ganz vorwiegend in Verbindung mit dem adjektivischen Attribut still und fast ausschließlich als medizinischer Fachausdruck gebraucht. Sehr selten findet es sich in bildlicher Bedeutung in zeitgenössischenTexten, doch nur in solchen der gehobenen Standardsprache:
„Katzenschatten, stille Feiung gegen das Glück“ (Die Zeit, 29.12.1972, Nr. 52, in WDS-Wortprofil für „Feiung“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wp/Feiung>, abgerufen am 24.05.2021.).
Stille Feiung kommt außerhalb des medizinischen Bereichs so selten vor, dass das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache gerade einmal drei Textbelege für einen nichtmedizinischen Zusammenhang anführt.
Stille Feiung ist auch für medizinische Laien unmittelbar verständlich, weil wir es mit dem allgemein gebräuchlichen gefeit sein (gegen oder vor etwas) verknüpfen können.
Wir hoffen vor Krankheit, seelischer Verletzung und Gefahren aller Art geschützt und sicher, vor ihnen oder gegen sie gefeit zu sein (vgl. gefeit, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/gefeit>, abgerufen am 24.05.2021.).
Woher stammt das der Form gefeit zugrundeliegende Verb feien, von dem Feiung abgeleitet ist? Außer in gefeit sein wird dieses Verb in der Gegenwartssprache selten und ähnlich wie Feiung nur in gehobenen Kontexten gebraucht (feien, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/feien>, abgerufen am 24.05.2021).
Über seine Herkunft findet sich folgender Eintrag:
„feien Vb. ‘(durch Feenkraft) unangreifbar, immun machen’, fast nur im Part. Prät. gefeit ‘geschützt, unempfindlich’. Nach dem Vorbild von gleichbed. Frz. féer (afrz. faer, zu afrz. fee ‘Fee’) wird feien Anfang des 19. Jhs. zu Fei gebildet. Ein bereits mhd. bezeugtes gleichbed. feinen, zu mhd. fei(e), feine (s. ↗Fee), setzt sich nicht fort („feien“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/etymwb/feien>, abgerufen am 24.05.2021)“.
Wie das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache erklärt, geht das Verb feien auf ein seit dem Mittelalter belegtes Nomen Fei zurück. Das deutsche Verb wurde nach dem Vorbild des französischen féer 'feien' aus fee gebildet, wobei die französischen Vorbilder féer und fee bereits im Altfranzösischen (belegt ca. 9. Jhd. bis Ende 14. Jhd.) existierten, während das deutsche feien laut DWDS erst im 19. Jahrhundert aus Fei gebildet wurde.
Woher stammt das im Gegenwartsdeutschen nicht mehr gebräuchliche Fei?
Fei wurde in der mittelhochdeutschen Sprachperiode aus dem französischen fee entlehnt, und es bezeichnete wie dieses eine mit magischen Kräften begabte Frau, deren Worten eine schicksalhafte Bedeutung zugeschrieben wurde.
Diesem Nomen Fei aber erwuchs in der späteren neuhochdeutschen Sprachperiode Konkurrenz durch Fee, eine erneute Entlehnung aus dem französischen fée, und spätestens im 19. Jahrhundert verdrängte Fee das nunmehr als altertümlich empfundene Fei.
Die Bedeutung der französischen Vorbilder fee bzw. fée und der deutschen Entlehnungen Fei und Fee hat sich vom Mittelalter zur Neuzeit nicht wesentlich verändert, in beiden Sprachen wird eine Frau bezeichnet, deren Worte Fluch oder Segen bewirken. Im neuzeitlichen Märchen begegnen uns die gute und die böse Fee, deren Fluch und Segen das Schicksal der Königstochter Dornröschen bestimmen.
Nachdem die Herkunft der Wortfamilie Feiung, gefeit, feien, fei und Fee geklärt ist, wollen wir die Geschichte des französischen Nomens fee weiter in die Vergangenheit zurückverfolgen. Die Spurensuche beruht auf sprachhistorischer Forschung, deren Ergebnisse hier aber nur skizzenhaft dargestellt werden können. Wer sich eingehender mit Aspekten des Themas beschäftigen möchte, dem empfehle ich die angegebenen wisenschaftlichen Quellen zum Einstieg.
Vorläufer der modernen französischen Sprache sind vom 8. Jahrhundert an im nordwestlichen Teil Frankreichs belegte altfranzösische Dialekte. Diese wiederum sind aus lokalen volkstümlichen Varietäten des Lateinischen, der Verkehrssprache des römischen Weltreiches hervorgegangen. Wie ein großer Teil des französischen Wortschatzes lässt sich das altfranzösische fee auf das Lateinische zurückführen. Es stammt von dem Nomen fāta ab, mit dem in der römischen Kaiserzeit weise Frauen, Seherinnen (ob diesen Frauen ursprünglich göttliche Eigenschaften zugeschrieben wurden, konnte ich nicht sicher herausfinden) bezeichnete, deren Verehrung wohl im volkstümlichen Glauben verwurzelt war. Die Faten verkündeten im antiken Rom Geburt, Tod und die Lebensspanne der Götter und Menschen, sie spannen die Schicksalsfäden, die das Leben der Menschen durchzogen. Nach volkstümlichem Glauben wurde jedes Kind drei Tage nach der Geburt von den Faten (drei Schwestern: tria fatae) besucht, die zuerst über sein Weiterleben entschieden.
Das Nomen fāta hat sich aus einer Partizip-II-Form des lateinischen Verbums fāri 'sprechen, verkünden, weissagen' entwickelt. Da es sich bei fāri um ein sogenanntes Deponens handelt, also um ein Verb, das passivische Form, aber aktivische Bedeutung hat (es bedeutet 'sprechen', nicht 'gesprochen werden'), wird fāta ursprünglich „die, die gesprochen hat“, „diejenige, die verkündet hat“ bedeutet haben.
Blicken wir in die Vergangenheit des Verbums fāri, so zeigen historisch-sprachwissenschaftliche Vergleiche mit verwandten Verben in den Sprachen Altgriechisch und Altindisch, dass bereits in der (nicht belegten, aber teilweise erschlossenen) urindogermanischen Sprache, einer gemeinsamen Vorgängersprache des Indischen, Griechischen und Lateinischen (und anderer Sprachen und Sprachfamilien, z. B. auch des Deutschen), ein Verb *bheh2- existierte, das als Ursprung von fāri und mit ihm verwandter altindischer und altgriechischer Verben gilt.
Das Altgriechische besitzt zwei Verben mit unterschiedlicher Bedeutung, die wohl beide letztlich auf dieses urindogermanische *bheh2- zurückgehen. Während φημί wie das lateinische Verb 'sprechen, sagen' bedeutet, wird das auf denselben Ursprung zurückgehende φάν φαίνω φαίνομαι in der Bedeutung 'erscheinen' verwendet.
Zu den späten Abkömmlingen dieses Verbs φαίνομαι gehört übrigens das neuhochdeutsch-eurogriechische Nomen Phänomen.
Betrachten wir das Altindische, dessen ältestes überliefertes Sprachzeugnis die aus dem zweiten Jahrtausend BCE datierende Hymnensammlung des Ṛgveda ist, finden sich hier ebenfalls zwei Verben, die auf *bheh2- zurückzuführen sind, bhā́ti 'strahlt', dessen Bedeutung also eher dem griechischen φαίνομαι 'erscheinen' ähnelt, und bhánati 'spricht', das semantisch dem griechischen φημί entspricht.
Bei einem Vergleich der Formen der griechischen und altindischen Verben miteinander und mit dem lateinischen Verb stellt sich heraus, dass die beiden Bedeutungen „Leuchten“ und „Sprechen“ im Griechischen und im Vedischen (so bezeichnet man das Altindisch des Ṛgveda) im Verhältnis zu Lautung und Form teilweise vertauscht sind. Im Lateinischen ist nur das eine Verb fāri „sprechen“ belegt.
Lautung und Form / Bedeutung
Formen mit eingeschobenem -n- nach der Wurzel:
bhá-n-ati (Vedisch) 'spricht'
φαί-ν-ω (Altgriechisch) 'erscheine, zeige'
Verbformen ohne -n- mit -ā- im Auslaut der Wurzel:
bhā́-ti (Vedisch) 'leuchtet'
φη-μί (Altgriechisch) 'spreche'
fā-ri (Lateinisch) 'sprechen'
Die Formen mit einem an den Verbstamm angefügten -n- tragen im Altgriechischen eine Bedeutung, die sich eher aus „leuchten“ entwickelt zu haben scheint, während das vedische Verb bhánati „sprechen“ bedeutet.
Bei den Verbformen, bei denen der Stamm auf -ā- (ohne folgendes -n-) auslautet, setzen das Lateinische und das Griechische die Bedeutung „sprechen“ fort, während das Altindische bhā́- „leuchten“ bedeutet.
Aufgrund historisch-sprachwissenschaftlicher Untersuchungen des Verbs wird angenommen, dass alle hier gezeigten Verben auf éinen gemeinsamen Ursprung in der urindogermanischen Sprache zurückgehen. Das „Lexikon der indogermanischen Verben“ (LIV) setzt zwar aufgrund der Bedeutungsverschiedenheit zwei ursprüngliche Verben an, erklärt aber in einer Fußnote, dass beide wohl ursprünglich identisch waren (LIV 2001: 69, FN. 1).
Sollten sich die Verben mit der Grundbedeutung „leuchten, scheinen“ und diejenigen mit der Bedeutung „sprechen, sagen“ aus einem ursprünglichen Verb entwickelt haben, müsste sich der gemeinsame Ausgangspunkt beider ermitteln und der semantische Zusammenhang von „leuchten“ und „sprechen“ erklären lassen. Es wäre herauszufinden, ob das Ursprungsverb eher „leuchten“ oder eher „sprechen“ bedeutete; außerdem könnte man ermitteln, in welcher Phase der Entwicklung eine Trennung der Bedeutungsstränge stattgefunden haben könnte: noch in der urindogermanischen Sprache oder später, auf der Ebene der schriftlich belegten altindogermanischen Sprachen.
Die Beobachtungen an den altgriechischen, vedischen und lateinischen Verben deuten darauf hin, dass das Verb in der Zeit der Grundsprache, vielleicht kurz vor ihrem Zerfall in Einzelsprachen, beide Bedeutungen, „leuchten“ und „sprechen“, in éinem Verb trug. So wäre es zu erklären, dass die Formen und Bedeutungen der entsprechenden Verbpaare einander in Vedisch und Altgriechisch in umgekehrter Weise zugeordnet sind (vgl. die Tabelle oben). Das Lateinische bietet hier keinen Anhaltspunkt, da in ihm ja nur ein Verb „sprechen“ erhalten geblieben ist.
Martin Kümmel geht im LIV (LIV 2001: 69) davon aus, dass das Verb *bheh2- ursprünglich „leuchten“ bedeutete.
Er skizziert eine mögliche Bedeutungsentwicklung „etwa 'leuchten' → *hell machen → *klar machen → 'sagen'“ (LIV 2001: 69) (die mit * markierten Bedeutungen sind nicht im zugänglichen Textmaterial der betreffenden Sprachen belegt, sondern als logisch zu ergänzende Zwischenstufen lediglich erschlossen).
Interessant wäre es an dieser Stelle, zu untersuchen, ob es parallele semantische Entwicklungen bei anderen Verben des Sprechens/Sagens gibt. Dies wäre ein Thema für eine andere, weiterführende Betrachtung.
Beleuchtet man den Zusammenhang der beiden altindischen Verben genauer, so finden sich weitere mögliche Anhaltspunkte für semantische Schnittstellen der beiden Bedeutungen „leuchten“ und „sprechen“ (vgl. „Wörterbuch des Ṛgveda“ von Hermann Grassmann: 927 und 930 f.).
So wird bhā́ (verbunden mit einem Objekt im Akkusativ, häufig auch mit der Lokalpartikel ā́, „zu“) im Ṛgveda in der Bedeutung „beleuchten, bestrahlen, herscheinen“ gebraucht (vgl. Hettrich 2007: Eintrag zu bhā), bhánati bedeutet im Altindischen „sprechen“, aber auch „ankündigen, anpreisen“.
Ein möglicher semantischer Zusammenhang dieser zwei Verbformen wäre: einen Lichtstrahl auf etwas richten → es ankündigen, es zeigen. Auch der Bezug des Sprechens auf Zukünftiges (wie bei der Schicksalsverkündung durch die Fāten) kann hier angelegt sein. Die Vorstellung, die Aufmerksamkeit des Gegenübers durch Sprechen auf etwas zu lenken, lässt sich bildlich mit dem Hinleuchten mit einer Lampe vergleichen.
Natürlich kann man vom Altindischen nicht einfach auf die semantischen Verhältnisse in der Ursprache zurückschließen, vielmehr sollten hier nur mögliche semantische Parallelen und Zusammenhänge aufgezeigt werden, die in ähnlicher Weise auch in der Ursprache gewirkt und zur Entwicklung der beiden Bedeutungsstränge des ursprünglichen Verbs beigetragen haben könnten.
Die Schicksalsverkünderin, die Fāta, wie die Fee, die mit guten oder bösen Zauberkräften begabte Frau mittelalterlicher Erzählungen und neuzeitlicher Märchen, beide zeigen mit ihren Worten das künftige Schicksal der Menschen, verkünden Fluch und Segen.
So ist in all diesen Wörtern, vom urindogermanischen *bheh2- über bhā́ti, bhánati, φημί, φαίνομαι und fāri zu fāta, fei, Fee und feien etwas von der Leuchtkraft, vom Zauber des gesprochenen Wortes erhalten.
Quellen:
„feien“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/etymwb/feien>. Abgerufen am 24.05.2021.
„Feiung“, in: DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, <https://www.dwds.de/wp/Feiung>. Abgerufen am 24.05.2021.
„gefeit“, in: DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, <https://www.dwds.de/wb/gefeit>. Abgerufen am 24.05.2021.
Grassmann, Hermann. 1999. Wörterbuch zum Rigveda. Delhi: Motilal Banarsidass.
Hettrich, Heinrich. 2007. Verbalwurzel bhā, C.B.II.40, 111ff. In: Materialien zu einer Kasussyntax des Ṛgveda. Würzburg: Institut für Altertumswissenschaften der Universität, 2007. https://www.phil.uni-wuerzburg.de/fileadmin/04080400/Materialien.pdf. Abgerufen am 24.05.2021
Lexikon indogermanischer Verben. 2001. Hrsg. von Martin Kümmel. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag.
Mayrhofer, Manfred. 1992. Etymologisches Wörterbuch des Altindoarischen. Band 2. Einträge zu bhā́, bhán, bhā́s. Heidelberg: Winter.